NATIONALE IDENTITÄT – Wir Deutsche müssen uns entdeutschen

Goethe-und-Schiller-Denkmal in Weimar: Goethe sah die Deutschen unfähig zur Nation, Schiller war für ein vereintes Europa Quelle: dpa

Wir sind das Volk der Unsicherheit und Selbstbefragung. In seiner monumentalen Studie „Was ist deutsch?“ legt der Heidelberger Professor Dieter Borchmeyer die deutsche Geschichte und Kultur auf die Couch.

Es geschah in Versailles. Nicht in Berlin, nicht in Frankfurt, Nürnberg, Köln oder Weimar wurde 1871 das deutsche Kaiserreich proklamiert. Sondern im Spiegelsaal des Schlosses, das bis zur Revolution von 1789 Sitz der französischen Könige gewesen war. Warum dieser Ort?

Der landläufigen Deutung zufolge sollte damit das soeben von den deutschen Armeen besiegte Frankreich zusätzlich gedemütigt werden: Der Preußenstaat bemächtigt sich eines bedeutenden nationalen Erinnerungsortes der Franzosen. So mag es gewesen sein. Oder auch nicht.

Vielleicht drückt sich in der exterritorialen Gründung des Deutschen Reichs auch eine deutsche Unsicherheit aus. Eine Scheu, Nation zu werden.

Die deutsche Frage

Deutschland, wo liegt es? Was ist des Deutschen Vaterland? Das fragten im 19. Jahrhundert fast alle Schriftsteller, Dichter, Publizisten, Philosophen und Wissenschaftler, die sich mit der deutschen Frage herumschlugen, welche seit den Befreiungskriegen so virulent geworden war.

Viele von ihnen – etwa Heinrich von Kleist oder Ernst Moritz Arndt – taten sich als glühende, martialisch den Krieg verherrlichende Nationalisten hervor. Aber zugleich standen die meisten von ihnen erklärtermaßen auch in einer ganz anderen Tradition: der kosmopolitischen, der universalistischen.

Zu wenig menschheitlich

Die Deutschen, sagt man, wissen nicht, wer sie sind. Es hat auch damit zu tun, dass der Weg in den Nationalstaat für die Deutschen weit weniger zwingend war als etwa für Franzosen, Polen oder Belgier.

Das Gegenstück zur Zersplitterung der Deutschen in der Provinz war eine Ahnung und – bei Goethe und Schiller etwa – die Gewissheit, dass der politische Nationalstaat nicht zu den Deutschen passt, weil er zu eng, zu wenig menschheitlich ist. Das widerspricht der weitverbreiteten Überzeugung, alle Wege der Deutschen hätten seit eh und je direkt in den chauvinistischen Nationalstaat und dann in den Holocaust geführt.

Es ist nun das große Verdienst der monumentalen Untersuchung „Was ist deutsch?“ des Heidelberger Literaturwissenschaftlers Dieter Borchmeyer, anhand der Schriften einer großen Zahl von Autoren mit unendlicher Sorgfalt eine andere Wirklichkeit herausgearbeitet zu haben – ohne dabei die deutsche Misere, die deutsche Barbarei zu beschönigen.

Schmerzhafte Wucht

Dass das Buch mehr als 1000 Seiten umfasst, liegt auch daran, dass der Autor nicht einfach Denkergebnisse und Erkenntnisse präsentiert, sondern seine literarischen Gewährsleute ausführlich zu Wort kommen lässt. Behutsam führt er durch den Garten der deutschen Dichtung und Publizistik.

Versenkt man sich in das Buch, hört man in die Gespräche der Ahnen hinein und entdeckt einen Reichtum an Ideen, der so groß ist, dass sich mit schmerzhafter Wucht die Frage aufdrängt, warum es ausgerechnet die Deutschen waren, die den größten Zivilisationsbruch der Moderne zu verantworten haben.

Das Problem beginnt schon mit dem Wort „deutsch“. Während andere Staaten wie Franzosen, Italiener oder Briten Stammesnamen tragen, verweist der Name der Deutschen nicht auf die Herkunft, sondern auf die Sprache: Deutsch ist, wer Deutsch spricht – es war immer schon unmöglich, das Deutsche territorial zu bestimmen.

Der deutsche Weg nach innen

Als in der Folge von Reformation und Dreißigjährigem Krieg die Tradition des deutschen Stadtbürgertums zerstört und das entvölkerte Land zerrüttet war, stand eine Staatswerdung jenseits des Vorstellbaren. Hier beginnt die Geschichte des deutschen Wegs nach innen.

Eine der klassischen Wendungen, die Borchmeyer anführt, steht in den „Xenien“ von Goethe und Schiller: „Zur Nation euch zu bilden, ihr hoffet es, Deutsche, vergebens. / Bildet, ihr könnt es, dafür freier als Menschen euch aus.“

Darüber ist oft gespottet worden: welt- und öffentlichkeitsabgewandte Innerlichkeit als biederer Ersatz für die politische Tat. Zu den Höhepunkten des Buches gehört Borchmeyers Versuch, gegen diese schlichte Deutung die Größe und Weltoffenheit der vergessenen „Weimarer Klassik“, Goethe und Schiller voran, herauszustellen.

Europäische Klassik

Goethe sah die Deutschen unfähig zur Nation, und das gefiel ihm durchaus. Er, das „Zeitablehnungsgenie“ (Heinrich Heine), stemmte sich gegen den nationalen Trend, weil er mehr wollte. Er wollte die Deutschen aus ihrer „Selbstigkeitslust“ befreien und sah „die Epoche der Welt-Literatur an der Zeit“.

Politischer war Schiller, der – heute fast vergessen – entschieden für übernationale Zusammenschlüsse, für ein vereintes Europa, eine „europäische Staatengesellschaft“ stritt. All jene, die heute wieder vom souveränen Nationalstaat träumen und sich dabei auch auf das kulturelle Erbe der „Weimarer Klassik“ berufen, sollte es beschämen, dass ihnen die Weimarer Koryphäen schon vor mehr als 200 Jahren weit voraus waren.

Wie man überhaupt Borchmeyers Buch zum Anlass nehmen sollte, die „Weimarer Klassik“ vom Staub und Gips zu befreien, die ihr die Zeit und verquaste Deutungen zugefügt haben. Sie lebt und muss nur wiederentdeckt werden. Schon vor mehr als 100 Jahren nannte Friedrich Nietzsche Goethe einen „Zwischenfall ohne Folgen“. Zeit, ihn wieder zu lesen.

Der Tag der Deutschen

Unschuldig ist niemand, auch die Weimarer nicht. Die Deutschen, heißt es, schwanken zwischen Kleinmut und Großkotzigkeit, zwischen Verzagtheit und Größenwahn: Wir sind nichts, trotzdem oder deswegen sind wir alles.

Der – sehr ernst gemeinte – deutsche Universalismus hat auch eine dunkle Seite. Schon bei Schiller wird sie sichtbar. Der Tag der Deutschen liege in der Zukunft, sagte er.

Und wenn er kommt, dann werde „die Ernte der ganzen Zeit“ eingeholt. Und auch: „Unsere Sprache wird die Welt beherrschen.“ Das ist nicht chauvinistisch gemeint, klingt aber so.

Verhaltenes Sehnsuchtslied

Und diesen Ton wird man ein Jahrhundert lang, bis zum Ersten Weltkrieg, immer wieder hören. Interessant ist, dass ihn nicht nur die Nationalbornierten wie Arndt oder Langbehn anschlagen, sondern auch die Kosmopoliten.

Heine spricht von der „Universalherrschaft Deutschlands“ und ist sich gewiss: „Die ganze Welt wird deutsch werden.“ Wohlgemerkt, das war ebenso weltbürgerlich gemeint wie, wenn auch schon umkippend, das „Deutschland, Deutschland über alles“ im „Lied der Deutschen“, das im Vergleich zur blutrünstigen Marseillaise ein geradezu verhaltenes Sehnsuchtslied ist.

Mit großer Umsicht arbeitet Borchmeyer heraus, dass noch nach der antifranzösischen Wende in vielen Schriften der Nationalbefreier das Feuer des Universalismus mehr als nur glomm. Etwa in Fichtes „Reden an die deutsche Nation“ (1807/1808), die später ein wichtiger Bezugstext für die Zionisten wurden.

Funke des Universalismus

Es war ein langer, langsamer Abschied vom Kosmopolitismus, der auch seine entschiedenen Gegner fand. Etwa in Nietzsche, einem glühenden Europäer, der sagte: „Gut deutsch sein heißt sich entdeutschen.“ Oder in Thomas Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen“ (1918).

An einer der schönsten Stellen des Buches modelliert Borchmeyer heraus, dass der vorrepublikanische Thomas Mann, der hier deutsche Kultur gegen (oberflächliche) französische Zivilisation in Stellung bringt, den Funken des Universalismus nicht auszutreten vermag.

Borchmeyers Buch greift weit über die klassischen Schriften zur deutschen Frage hinaus. Es behandelt die deutschen Nationalhymnen ebenso wie die Versuche, eine deutsche Mythologie zu konstruieren.

Unvergleichliche Blüte

Mit Madame de Staël blickt der Autor von außen auf Deutschland. Ein großes Kapitel widmet sich Wagner und der deutschen Musik, die im frühen 19. Jahrhundert plötzlich von Provinzialität in Internationalität umschlug.

Ein anderes handelt von der deutschen Universität, die einmal der Ort von Selbstbestimmung und Konversation sein sollte, die eine unvergleichliche Blüte erlebte und die mit der Vertreibung der Juden einen Schlag erhielt, von dem sie sich nie wieder erholte.

Viele Preziosen findet man beiläufig auf den Seiten dieses Buches. Etwa eine schöne Deutung der Mignon-Gedichte, in denen Goethe das Italien fand, das er immer schon kannte: „Das Fernweh wähnt sich Heimweh.“

Frieden und Sozialismus

Oder eine besondere Kapriole des Weimar-Kults. 1962 schrieb Walter Ulbricht im „Neuen Deutschland“: „Erst im jetzigen geschichtlichen Augenblick haben die Arbeiter und Bauern, die Angestellten und Handwerker, haben alle Werktätigen der Deutschen Demokratischen Republik begonnen, den dritten Teil des ‚Faust‘ mit ihrer Arbeit, mit ihrem Kampf für Frieden und Sozialismus zu schreiben.“

Das mit Abstand längste (und in etlichen Besprechungen des Buches schlicht übergangene) Kapitel lautet „Deutschtum und Judentum – eine tragische Illusion?“. Die Lektüre ist erschütternd. Das Kapitel zeigt, mit welch unendlicher Leidenschaft und Hingabe deutsche Juden bis zum Jahre 1933 bemüht waren, sich nicht nur zu assimilieren, sondern deutscher zu sein als die Deutschen und die deutschen Werte zu verinnerlichen.

Innige Wahlverwandtschaft

Moses Mendelsohn übersetzte die Thora ins Deutsche, um die Juden an die deutsche Sprache heranzuführen. In Erinnerung geblieben ist nur der Hass der Deutschen auf die Juden, die sie als fremd und inkommensurabel wahrnahmen.

Doch in Wahrheit gab es viele deutsch-jüdische und deutsche Autoren, die eine Nähe zwischen beiden Völkern, ja eine Seelenverwandtschaft sahen. Heine spricht von der „innigen Wahlverwandtschaft zwischen den Juden und Germanen“, viele andere argumentierten ähnlich.

Ernst Moritz Arndt, der blutrünstige antifranzösische Lieder schrieb, sagte in Anspielung auf die mangelnde deutsche Einheit: „Man hätte uns die Juden des neuesten Europa nennen sollen, denn wie die Juden sind wir umher verstreuet.“

Wechselseitig angezogen

Immer wieder dieses Motiv: Beide Völker eint ihre Selbstzweifel, ihre Unfertigkeit, ihre Ruhelosigkeit. Der heute fast vergessene Philosoph und Soziologe Erich Kahler, den Borchmeyer ausführlich zu Wort kommen lässt, schrieb, das Deutschtum wie das Judentum leide „an seiner undurchdringlichen Art, die immer noch ihre endgültige Form nicht gefunden hat“. Juden und Deutsche fühlten sich wechselseitig angezogen, und mancher Autor bescheinigt auch den Deutschen eine Ahasver-Existenz.

Bedenkt man, dass es auch Gedanken dieser Art waren, die halfen, den Juden in Deutschland seit dem Kaiserreich einen Aufstieg zu ermöglichen, der in keinem anderen Land Europas eine Parallele hat – dann fällt die Vernichtung dieser Tradition, die den ethnischen Deutschen in nur einem Jahrzehnt gelang, umso erschreckender ins Gewicht.

Skandal des deutschen Weges

Das Buch wäre nicht so dick geworden, gäbe es eine Antwort auf die Frage „Was ist deutsch?“. Borchmeyer ist so umsichtig, nur Wege anzudeuten. Die Selbst- und Traditionszerstörung, die sich Deutschland mit dem Holocaust zugefügt hat, erscheint nach der Lektüre dieses Buches, das so viele gute deutsche Wege aufzeigt, die möglich gewesen wären, noch viel rätselhafter als zuvor.

Deutschland bleibt ein fremdes Land. Deswegen hätte der Autor – die einzige Kritik an diesem großen Werk – besser daran getan, auf das letzte Kapitel, das kürzeste von allen, zu verzichten.

Denn hier versucht er, im Blick auf die Wiedervereinigung einen versöhnlichen Bogen zu schlagen und das neue, europäische Deutschland gegen die nörgeligen „Edelbitterintellektuellen“ (ein Wort unter seinem Niveau) zu verteidigen. Wo doch gerade nach diesem Buch der Skandal des deutschen Weges vom Weltbürgertum zu einer Politik der Fremdenvernichtung noch rätselhafter, noch schmerzhafter wirkt.

Von Thomas Schmid
Quelle: https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article163633762/Wir-Deutsche-muessen-uns-entdeutschen.html?wtrid=socialmedia.sociaflow.n24…facebook

3 Gedanken zu “NATIONALE IDENTITÄT – Wir Deutsche müssen uns entdeutschen

  1. Wenn sich dem Autor die Frage aufdrängt, „warum es ausgerechnet die Deutschen waren, die den größten Zivilisationsbruch der Moderne zu verantworten haben“, dann sollte er sich doch bemühen diese zu beantworten.
    Dazu mein Tipp: Fragen können sich auch dadurch beantworten, dass sie verschwinden. Z.B. weil sie sich bei genauerer Betrachtung als ideologisch-manipulatives Konstrukt entlarven.

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