Ist der Islam mit dem Grundgesetz vereinbar? Warum diese Frage Unsinn ist

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„Ist der Islam mit dem Grundgesetz vereinbar?“, fragte ich die Teilnehmer meines Islamrechts-Seminars.

Auf Anhieb fällten alle ein eindeutiges Urteil, entweder in die eine oder die andere Richtung.

Dann fragte ich, ob sie den Islam studiert hätten. „Nein“, antworteten sie. „Und unser Grundgesetz“, fragte ich weiter. Wieder verneinten sie.

„Warum dann maßen Sie sich ein eindeutiges Urteil an, wenn Sie beide Vergleichsparameter nicht kennen?“, gab ich schließlich zu bedenken.

Oben im Video: Gehört der Islam zu Deutschland? Das sagen die Deutschen dazu

Es folgten einsichtige Gelächter. Immer verlief dieses von mir wiederholt durchgeführte Experiment an verschiedenen Seminaren nach diesem Muster.

Als gäbe es mehr Islamexperten als Muslime

Ein Phänomen, das an eine Philosophie ohne Wissenschaft erinnert, wie sie Karl Jaspers einst mit Sorge beobachtete: „In philosophischen Dingen hält sich fast jeder für urteilsfähig. Während man anerkennt, dass in den Wissenschaften Lernen, Schulung, Methode Bedingung des Verständnisses sei, erhebt man in Bezug auf die Philosophie den Anspruch, ohne weiteres dabei zu sein und mitreden zu können“.

Die talkshowgeplagte Diskussion über das Verhältnis von Islam und Grundgesetz verläuft in der Regel nicht weniger anmaßend.

Man hat zuweilen das Gefühl es gebe mehr Verfassungsrechtler als Bürger, mehr Islamexperten als Muslime, mehr Antworten als Fragen.

Der Islamgelehrte Malil ibn Anas traute sich zu sagen: „Ich weiß es nicht“

Die gelehrsame Bescheidenheit etwa eines Malik ibn Anas (gest. 795) wirkt heute undenkbar. Trotz seiner unumstrittenen Islamgelehrsamkeit und entsprechend hoher Erwartungshaltungen an ihn antwortete er einem weit gereisten Gast auf 34 von 40 fachbezogenen Fragen mit „ich weiß es nicht“.

Auf das Unverständnis des Fragenden reagierte Malik mit den Worten: „Mir ist der Islam teurer als falsche Eitelkeit“.

Auch uns sollten Verfassung und Glaube teurer sein.

Was das deutsche Recht über die Religion sagt

Das Verhältnis von Staat und Religion regelt bei uns das Religionsverfassungsrecht. Seine Fundamente sind Religionsfreiheit als Menschenrecht, Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften sowie die institutionelle Trennung zwischen Staat und Religion.

Eine im Gegensatz zum Säkularismus oder Laizismus bloß institutionelle und keine „strikte“ Trennung, wie sie vielfach missverstanden wird. In unserem säkularen Rechtsstaat müssen Gläubige ihren Glauben gerade nicht an die Garderobe hängen, wenn sie das Haus verlassen.

Bis neulich hatten wir einen evangelischen Pastor im höchsten Staatsamt. Unsere Bundeskanzlerin ist Vorsitzende einer explizit christlichen Volkspartei.

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Das macht unsere säkulare Verfassungsordnung so sympathisch volksnah und einzigartig.

Aus Respekt und nicht argwöhnischer Distanz verpflichtet sich unser Staat zur religiös-weltanschaulichen Neutralität, ohne einem Werteneutralismus zu verfallen.

Eine fördernde Staatsneutralität. Sie will Weltanschauungs- und Religionsgemeinschaften gleichberechtigt an der Gestaltung der Gesellschaft teilhaben lassen. Auch wenn es in der Praxis glaubensbezogene Diskriminierungen gibt, finden wir in unserer Verfassung ein normatives Korrektiv, das uns immer wieder praktische Defizite schonungslos vor Augen führt. Auch fordert sie tellerrandweites Denkvermögen heraus.

Mag man gefühlt etwa für einen potenziellen Bundespräsidenten namens Navid Kermani noch nicht bereit sein, die Verfassung ist es längst.

Eine Religion muss nicht verfassungskonform sein

Den Müttern (!) und Vätern unseres Grundgesetzes war bewusst, dass weder die Verfassung noch Religionen selbst handlungsfähig sind. Nicht also eine Religion muss verfassungskonform sein, sondern die Religionspraxis ihrer Anhänger, die sich naturgemäß aus bestimmten Religionsverständnissen speist.

Welche konkrete Religionspraxis verfassungsgemäß ist, entscheidet in letzter Instanz die höchstrichterliche Spruchpraxis.

Unsinnig ist indes die Frage nach der Vereinbarkeit des Islams mit dem Grundgesetz.

Bloß Verständnisse von ihnen lassen sich vergleichen und lediglich Handlungen bzw. Unterlassungen sind justiziabel.

Das Grundgesetz selbst ist keine Heilsbotschaft. Sein Anspruch beschränkt sich auf eine faktische Anerkennung, die notfalls mit staatlicher Gewalt erzwungen wird.

Zum Verständnis der Scharia

Zum klassischen Schariaverständnis: Über 97 Prozent aller Koranverse befassen sich mit Glaubensgewissheiten (Iman) sowie moralischer Vervollkommnung (Ihsan), also mit Spiritualität.

Die restlichen Verse betreffen die handlungsbezogene Hingabe zu Gott (Islam) und vor allem den rituellen Gottesdienst, wie etwa das Gebet, die soziale Pflichtabgabe, das Fasten, die Pilgerfahrt etc.

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Dieser überwältigende Teil des islamischen (Heils-)Wegs (wörtlich: Scharia) wird in unserem säkularen Verfassungsstaat von der Religionsfreiheit zu leben garantiert und in gegenwärtigen Scharia-Debatten konsequent ignoriert.

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Blick auf die Religionsfreiheit betont, dass alle Gläubigen ihr gesamtes Leben entsprechend ihrer religiösen Normen ausrichten dürfen, solange sie die Rechte anderer nicht verletzen.

Nun gibt es ca. 80 Koranverse, aus denen klassische Rechtsnormen abgeleitet werden können und Bereiche ansprechen, wie Vertrags-, Erb-, Ehe-, Familien-, und am seltensten Strafrecht. Das sind ca. 1 Prozent der über 6200 Koranverse

Eine ähnliche Relation findet sich im Übrigen auch mit Blick auf die authentifizierte Prophetentradition als weitere Scharia-Quelle.

In Deutschland gilt deutsches Recht

Diese Textstellen dürfen keinesfalls verwechselt werden mit nationalstaatlichen Gesetzen. Es handelt sich um rationalisier- und kontextualisierbare Hinweise, aus denen vielfältige Normverständnisse resultieren.

Eine gesetzliche Kodifizierung ist der islamischen Rechtswissenschaft wesensfremd. Eine etwaige „Einführung der Scharia“ in Form von Nationalstaatsgesetzen ist islamtraditionell ein Unding.

In Deutschland gilt deutsches Recht (Territorialprinzip), und zwar auch dann, wenn das deutsche Recht die Anwendung fremden Rechts zulässt, wie etwa im Vertrags- oder internationalen Privatrecht. Die Anwendung fremden Rechts findet seine Grenzen im ordre public, d.h. dort, wo es fundamentalen Verfassungswerten widerspricht.

Muslimische Bundesbürger schulden denselben faktischen Rechtsgehorsam wie alle übrigen Bundesbürger auch, ohne Wenn und Aber.

Viele Muslime leben im Einklang mit der Verfassungsordnung – ohne es erklären zu können

Gewiss: Die absolute Mehrheit der hiesigen Muslime lebt ihren Glauben – wenn überhaupt – wie selbstverständlich in diesem verfassungsrechtlich geschützten Sinne und damit wie die Mehrheit anderer Glaubensgemeinschaften im Einklang mit unserer säkularen Verfassungsordnung, ohne tiefgründige Kenntnisse über Religion und Verfassung.

Ihre praktische Verfassungstreue allein deshalb in Frage zu stellen, weil sie sie theoretisch vermutlich nicht differenziert erklären können, auch das schwingt in Diskussionen häufig als Vorwurf mit, ist absurd. Schließlich sind nicht alle Muslime Juristentheologen.

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Man käme ja auch nicht auf die Idee die Verfassungstreue eines Durchschnittsbürgers anzuzweifeln, bloß weil er seinen verfassungskonformen Alltag juristisch nicht erklären kann.

Entscheidend ist insoweit seine Praxis, nicht seine kognitive Fähigkeit.

Ich bin stolz auf meine Eltern

Stolz bin ich auf meine Eltern, die bloß die Grundschule in ihren albanisch-mazedonischen Dörfern besuchen und später Deutschland mit aufbauen durften.

Mein Vater berichtet mir häufig davon, dass er bei der Anwerbung von Gastarbeitern aus dem ehemaligen Jugoslawien vor allem drei Voraussetzungen erfüllen musste, um berücksichtigt zu werden. Er musste gesund, physisch stark und möglichst ungebildet sein. Schließlich sollte er Steine schleppen und nicht auf die Idee kommen hier zu studieren.

Die unbezahlbaren Entbehrungen meiner Eltern, ihr unermüdlicher Fleiß, ihre Geduld, ihre gesellschaftliche Loyalität trotz häufiger Ablehnungserfahrungen, ihre bedingungslose Dankbarkeit, ihr erwartungsloses Geben, ihre Bescheidenheit, ihre Nächstenliebe und außergewöhnliche Menschlichkeit – herausragende Eigenschaften und Leistungen, für die sie ideell nie gebührlich honoriert worden sind, ohne es selbst so zu empfinden. Denn nie waren sie Richter in eigener und fremder Sache.

Man erwartete Gastarbeiter und es kamen Verfassungspatrioten, die sich im Bewusstsein ihrer Verantwortung vor Gott und den Menschen dem friedlichen Mit- und Füreinander verschrieben haben, ohne die Präambel unseres Grundgesetzes zu kennen.

Wir brauchen mehr gelebte Verfassungstreue und weniger intellektuelle Nichtsnutze

Sie hatten eine nervige Apologetik im Sinne von „der Islam sei Frieden“ nicht nötig. Sie lebten Frieden vor. Ihr Argument gegen sogenannte Islamkritiker, die unseren säkularen Rechtsstaat kritisch an Muslime gerichtet vielfach mit einem Laizismus oder einem Säkularismus verwechseln, war ihr Alltag.

Wir brauchen mehr von dieser gelebten Verfassungstreue und weniger intellektuelle Nichtsnutze oder gar Spalter.

Quelle: http://www.huffingtonpost.de/cefli-ademi/islam-grundgesetz-scharia-muslime-recht_b_17948970.html

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