Völkermord an den Armeniern?


Wer den Vorwurf des Genozids erhebt, muss ihn begründen können– insbesondere die Zerstörungsabsicht.

Niemand kann vernünftigerweise bestreiten, was Bundespräsident Gauck in seiner Armenien-Rede am 23. April 2015 in aller Klarheit gesagt hat: Die „Angehörigen des armenischen Volkes“ wurden „vor einem Jahrhundert zu Hundertausenden Opfer von geplanten und systematischen Mordaktionen“. Es ist wahrscheinlich auch zutreffend, dass diese vom Osmanischen Reich zu verantwortenden Taten sich gerade deshalb gegen die Armenier gerichtet haben, „weil sie Armenier waren“. Doch handelte es sich dabei auch tatsächlich, wie von Gauck weiter gesagt, um einen „Völkermord“ im juristischen Sinne?

Nach der im Jahre 1948 verabschiedeten Völkermordkonvention haben wir es mit einem solchen zu tun, wenn bestimmte Handlungen gegen eine „nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe“ vorgenommen werden und zwar „in der Absicht“, diese „als solche ganz oder teilweise zu zerstören“. Es geht also nicht, wie der deutsche Begriff insinuiert, um den Mord an Völkern, sondern um die Vernichtung bestimmter Gruppen. Das trifft der Begriff „Genozid“ besser. Die Armenier sind zweifellos eine solche (ethnisch-religiöse) Gruppe, aber haben die türkischen Täter auch mit der erforderlichen Zerstörungsabsicht gehandelt? Kann man überhaupt ein Verhalten mit einer juristischen Kategorie belegen, die zu seinem Zeitpunkt noch gar nicht existiert hat?

Das sind keineswegs nur juristische Spitzfindigkeiten. Das Genozidverbot ist zwingendes Völkerrecht (ius cogens). Die von der Konvention geforderte „Verhütung und Bestrafung“ richtet sich an alle Staaten dieser Erde. Alle sind aufgerufen, einen Genozid zu verhüten und zu bestrafen. Der besondere Unrechtsgehalt – der Angriff auf eine der genannten Gruppen und die darin liegende Negierung ihres Existenzrechts – macht die Tat zum „Verbrechen der Verbrechen“, das mit einem besonderen Stigma versehen ist. Deshalb ist es auch verständlich, wenn ein Staat sich gegen die damit verbundene Stigmatisierung wehrt.

Natürlich ist es möglich, ein genozidales Verhalten auch nachträglich, gleichsam retrospektiv, als ein solches zu bewerten. Eine andere Frage ist, ob auch eine nachträgliche gerichtliche Aburteilung als Genozid zulässig ist. Nach unserem Verständnis verbietet dies das Rückwirkungsverbot, weil danach das Tatzeitrecht für die Aburteilung maßgeblich ist. Deshalb konnte auch der Holocaust, jedenfalls durch deutsche Gerichte, nicht als Genozid sondern „nur“ als massenweiser Mord abgeurteilt werden. Und ebenso wenig hätte man die damaligen türkischen Täter für ihre – ja noch früher liegenden – Taten wegen Genozid verurteilen können, selbst wenn unmittelbar nach den Taten der Tatbestand samt Gericht geschaffen worden wäre. Doch kann man, so lautet der völkerstrafrechtliche Einwand, das Rückwirkungsverbot auch weniger streng verstehen und die Strafbarkeit nach Gewohnheitsrecht oder allgemeinen Rechtsgrundsätzen ausreichend sein lassen. Das tut etwa die „Nürnbergklausel“ des Artikel 7 Absatz 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention (weshalb Deutschland diese ursprünglich mit einem völkervertraglichen Vorbehalt versehen hat). Letztlich kommt es hier darauf nicht an. Denn das Rückwirkungsverbot schließt jedenfalls unstrittig nicht die nachträgliche – außergerichtliche – Bewertung eines früheren Verhaltens als Genozid aus. Allerdings gelten auch insoweit die juristischen Maßstäbe der Genozidkonvention, jedenfalls wenn man mit dem Genozidvorwurf die juristischen Konsequenzen und die moralische Stigmatisierung erreichen will. „Genozid“ ist primär ein Rechtsbegriff, sonst verkommt er in der Tat zum politischen, konturenlosen „Kampfbegriff“ (F.A.Z. vom 23. April).

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